Ein frohes neues Jahr wünsche ich allen Leuten da draußen, Menschen wie Vampiren.

Gez. Anna ;-)
 
"Mir geht es gut, sehr gut, sehr gut."
Kurz bevor mein Vater wieder abreiste, trafen wir uns. Wir hatten uns per Telegramm, nein SMS, verabredet, saßen auf den Barhockern eines im 50er-Jahre-Stile hergerichteten Burger-King-Restaurants und tranken Milchshakes. Ich liebe das Zerknacken der winzigen Eispartikel im Mund, das macht die Verwässerung des Getränks wett. Wir aßen jedoch keine Burger. Der für uns passende muss erst noch erfunden werden. Big Blutwurstking oder Blutwurst Nuggets Burger. Von der Bahnhofshalle her drangen Geräusche ein- und ausfahrender Züge zu uns und erinnerten an die bevorstehende Abfahrt.
Ich sagte: "Wenn man es mal braucht, dass der Zug Verspätung hat ..."
"Ist er pünktlich wie die Eisenbahn", beendete mein Vater den Satz.
"Das ist lange her."
"Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht."
"Mir geht es gut."
"Kein Rückfall?"
"Nein."
"Genau das Gefühl hatte ich, als ich dich Cocktails mixen sah. Ich wollte nur sicher gehen. Gehört die Bar dir?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Dann wird sie bald dir gehören?"
Ich lächelte. "Nicht dass ich wüsste. Ich treibe so dahin, habe keine Ambitionen. Wobei ... vielleicht geraten Thorsten und ich ja - Thorsten ist mein Kollege - vielleicht geraten wir par erreur an die Bar. Der Chef sitzt nämlich im Knast."
"Warum denn das?"
"Wegen Erschleichens von Sozialleistungen." Ich lachte. "Wenn die nur wüssten, was ich mir schon alles erschlichen habe. Namen, Identitäten."
"Schall und Rauch."
 
Berlin des Anfangs des 20. Jahrhunderts war, anders als auf den Photographien, schillernd und bunt. Ich fing in einem Kabarettschuppen an, dem Chat Noir, noch bevor dieser, als der Nationalismus auch in den Alltag Einzug hielt, in Schwarzer Kater umbenannt wurde. Machte weiter mit meinem eigenen Kabarettschuppen, dehnte mein Geschäft aus, indem ich zwei weitere Häuser erwarb, und fand ein jähes Ende Anfang der 30er Jahre, als ich mich gezwungen sah, meine Häuser zu schließen und das Geld zwischen meinen Angestellten und mir aufzuteilen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Noch sind wir im lebenslustigen Berlin der Weimarer Republik. Als ich eine Varietétänzerin im Chat Noir war, gönnte ich mir nur wenig Schlaf, denn ich wollte das Leben auskosten bis zum letzten Tropfen. Damals standen mein Vater und ich uns sehr nahe, nicht wie Vater und Tochter, sondern wie Geschwister, die wir vom Alter her auch waren. Wir trafen uns nahezu täglich im Romanischen Café. Wenn ich ihn sehen wollte, brauchte ich nur hinzugehen und fand ihn in diesem Café, wo Künstler in Wartestellung ihrer Entdeckung harrten, wo hübsche Frauen mit Bubikopf und Zigarette im Mundwinkel zwischen ihnen wie Vögel umherschwirrten oder schweigend und abschätzigen Blickes die geheimnisvolle Kühle markierten. Mein Vater besuchte das Café nicht, um entdeckt zu werden, sondern genoss lediglich diese Atmosphäre der Erwartung. Außerdem wurde er es nicht müde, die Leute zu beobachten, die so bunt und verschieden waren wie die einzelnen Zeitungsschnipsel einer Dada-Collage, und die doch zwei Dinge gemeinsam hatten: die Hoffnung auf eine einzige große Chance und die Furcht, sie zu verpassen. Das Romanische Café war ein zweites Wohnzimmer für meinen Vater, die Gäste seine Großfamilie.
Eines Tages jedoch traf ich ihn nicht an, am nächsten Tage ebensowenig. Nach einer Woche begann ich, mich um ihn zu sorgen. Nach einer weiteren Woche gab ich ein Telegramm auf. Ich kannte die Adresse seiner Wohnung und hätte auch selbst hingehen können, aber wir haben eine inoffizielle Abmachung: keine Überraschungsbesuche in der Wohnung und niemals einen anderen Vampir dazu zwingen, sich eine Erklärung aus den Fingern saugen zu müssen. Also gab ich ein Telegramm auf. Und bekam eine Antwort, als ich schon gar nicht mehr mit einer solchen gerechnet hatte: "Sehr gut. Ich bin verliebt. Gez. Konrad."
Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater sich verliebte, auch nicht das heftigste Mal, aber es war das erste Mal, dass sie ihn verließ, bevor er es tat.
 
Gestern Abend saß ein besonderer Gast am Tresen.
Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ärgern sollte, denn ich hatte mir vorgenommen, eine Zeitlang auf die Gesellschaft von meinesgleichen zu verzichten. Der Vampir, der vor mir stand, war mir jedoch am liebsten, denn er erinnerte mich weder an die Ewigkeit, die vor mir liegt wie ein Pflastersteinweg ohne Ziel, noch erinnerte er mich an jene Episode meines Lebens, die ich mit der Gegenwart zu übertünchen und mit Gedanken an frühere Zeiten zu ummanteln suche.
Es handelte sich um den Vampir, den ich Vater nenne, obwohl er vier Jahre weniger als ich auf dieser Welt weilt, während er zwei Lebensjahre mehr als Vampir vorzuweisen hat. Ich hatte zwar nicht mit ihm gerechnet, jedoch überraschte mich sein Anblick nicht sonderlich. Wir beide wissen, wo der andere lebt und wie man miteinander in Kontakt treten kann. Wechselt einer Wohnort und Identität, erfährt der andere davon. Ebenso weiß ich, wo der Alte und der Jüngste derzeit ihre Zelte aufgeschlagen haben. Wir helfen einander in der Not. Ansonsten sind wir Einzelgänger. Ob das ein allgemeines Phänomen ist, weiß ich nicht, und den Alten habe ich nie danach gefragt.
Mein Vater verriet mit keiner Geste, keinem Blick, dass er mich kannte. Ich dankte ihm innerlich für seine Diskretion und fühlte mich beobachtet, obwohl er mich ignorierte, wenn er nicht gerade ein Glas Whisky bestellte. Sein mich meidender Blick durchbohrte mich.

Ich frage mich, was ihn zu mir geführt hat. Wir haben kein Wort miteinander gewechselt und uns nicht verabredet. Heute habe ich auf das Läuten meiner Türglocke gewartet. Doch alles, was läutete, waren die Kirchglocken.
 
Das scheint die zutreffendste Beschreibung für mein Lächeln. Nicht Lächeln Ausrufezeichen, Lächeln Fragezeichen oder Lächeln Punkt, Punkt, Punkt. Nein. Nur Lächeln Punkt. Schnörkellos. Und vor allem mit geschlossenen Lippen. Denn ich kann es mir nicht erlauben, Zähne zu zeigen.
Oftmals ist das schwierig. Beim Lachen muss ich die Hand vor den Mund halten. Wenn Thorsten mich zum Lachen bringt, bringt meine 'keusche Hand', wie er sie nennt, wiederum ihn zum Lachen. Auch beim Reden ist Vorsicht geboten, aber das ist einfacher, als man vielleicht vermuten mag. Bei einem Gespräch blicken mir die Leute meist in die Augen, zuweilen auch etwas tiefer, kommt ganz auf meine Garderobe an, aber selten blicken sie auf meinen Mund. Schwieriger wird es, wenn ich etwas erzähle, das mich zum Lächeln bringt. Solche Sachen behalte ich dann lieber für mich.
Die einzige Zeit im Jahr, in der ich unbeachtet lächeln kann, ist die Pfingstzeit, die Zeit des Leipziger Wave Gotik Treffens. Ich habe es zu einer persönlichen Tradition erhoben, jedes Jahr in diese Stadt zu fahren, nur um breit lächelnd die Schattenseite der Straßen entlang zu spazieren. Dann lächle ich all die kunstvoll geschminkten Leute an, die, überwiegend in Schwarz gekleidet, dennoch bunt auf mich wirken, bunt und verschieden und auf eine besondere Weise frei. Ich lächle die Gesichter an, die sich das Lächeln für vier Tage versagen; lächle die Blicke an, die mein Lächeln umschwirren; lächle die Lächelnden an, die sich von meinem Lächeln haben anstecken lassen; lächle, lächle, bis mir der Kiefer schmerzt; lächle, bis ich high bin vom Lächeln.
Begegne ich jemandem, der ebenso breit lächelt und ähnlich spitze, lange Eckzähne entblößt wie ich, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: "Trägt hier jemand seine Plastikzähne zur Schau, oder bin ich gerade einem Wesensverwandten begegnet?"
Ich halte inne, wende mich kurz um, begegne einem zu mir zurück geworfenen Blick, ein Moment der Unbestimmtheit vergeht, dann trennen sich unsere Blicke wieder, wir wenden uns ab, und jeder geht seines eigenen Weges.
 
Manchmal wird die Zeit verweht, manchmal fliegt sie in die Augen und brennt, manchmal möchte ich sie festhalten, öfter aber will ich sie nur vor mir hertreiben, bis sie quiekend zusammenbricht.
Wenn ich zu lang über die Zeit nachdenke, gleicht sie einem Topf, gefüllt mit Wasser, das nicht zum Kochen kommt, solange ich daneben stehe und darauf warte ... bis ich bemerke, dass ich vergessen habe, den Herd anzudrehen.
Der Älteste, den ich kenne, sagte einst: "Das wird schlimmer mit der Zeit."
"Die Zeit wird schlimmer mit der Zeit?", entgegnete ich und versuchte zu lächeln.
"Du hast gut Lachen, du bist noch jung!"
Jung? Knapp zweihundert Jahre und jung?
Aber er hat schon recht. Im Vergleich zu ihm bin ich jung. Wir nennen ihn den 'Alten'.
Wir. Wir sind nicht viele. Ich kenne nicht viele. Neben dem Alten einen, der jünger ist als ich, und meinen 'Vater'. Das ist alles. Ich habe keine Ahnung, wie viele unserer Art existieren, und ich weiß nicht, ob der Alte der Älteste überhaupt ist. Er gibt die Erkenntnisse, die seine Jahrhunderte ihm eingebracht haben, nicht preis, nur seine Halbweisheiten: "Tu alles, was du zu tun begehrst, solange du noch jung bist, und bring es zu Ende. Später wirst du nicht mehr dazu imstande sein."
Nach seiner Definition bin ich noch jung. Zu Ende gebracht habe ich bisher aber nichts bis auf das Erlernen der Singenden Säge.